Stress macht wichtig? - Was uns hindern könnte, unseren Stress zu reduzieren

 
 

„Ich hätte gern einen weniger stressigen Job/weniger stressigen Alltag, aber das ist nicht möglich.“

Den Satz kennst Du?

Sehnst Du Dich nach einem ruhigeren Tagesrhythmus, aber wie Du es auch drehst, es scheint nicht möglich zu sein?

Merkwürdigerweise gelingt es in nahezu jedem Job, Ruhe hineinzubringen. Aber es gelingt nicht jedem.

Natürlich gibt es genügend Fälle, wo von außen der Druck immer mehr erhöht wird. In vielen Fällen jedoch stelle ich mit meinen Klienten fest, dass Änderungen und entspannteres Arbeiten bei genauem und ehrlichem Hinschauen durchaus möglich sind, aber die notwendigen Schritte vermieden werden und sogar inneren Widerstand beim Klienten auslösen.

Zum Beispiel gab eine junge Führungskraft unumwunden zu, dass ihre Ansprüche an sich selbst bei der Arbeit mindestens so hoch sind wie die ihres Vorgesetzten. Erst jetzt, wo sie merkt, dass es an ihre gesundheitlichen Grenzen gehen könnte, ist sie bereit, ihr Arbeitsverhalten und ihre Einstellung zu überdenken und zu ändern.

Falsch wäre, wie sie selbst sagt, hier zu erwarten, dass ihr Chef plötzlich von selbst die Veränderung erspürt. Dass „Du machst im Grunde den Job für 3“ jetzt kein Kompliment mehr in ihren Ohren ist wie früher.

So wünschenswert ein Umdenken in den Unternehmen ist, so muss das Gespür für eine gesunde Arbeitsauslastung auch in den Köpfen vieler leistungsstarker Mitarbeiter erst einmal geweckt werden. Doch warum fällt ihnen das häufig so schwer?

1. Du musst es für möglich halten, dass dein Job auch weniger stressig sein könnte

Wenn Du jetzt denkst „schön wär’s, das ist in meinem Job aber nicht möglich. Dazu müsste ich den Job wechseln“, dann hast Du schon mal die erste Hürde entdeckt.

Für die meisten ist es geradezu ein Vorwurf, wenn ihnen geraten wird, den Druck rauszunehmen, den Rhythmus zu ändern.

Kein Wunder, denn letztlich klingt es doch nach „Ich bin zu dumm zu erkennen, wie ich es leichter/einfacher machen könnte.“ Tatsächlich aber haben wir über die Zeit häufig einen Tunnelblick entwickelt und sehen viele Lösungen nicht mehr. Unser Ego aber, versucht sofort, uns zu verteidigen mit einem „Das geht nicht“.

2. Wenn der Job Deine Wertigkeit bestimmt

Anderen fällt es schwer, Möglichkeiten der Stressreduktion zu sehen und wahrzunehmen, weil sie sich dann nicht mehr wichtig fühlen. Das hat weniger mit „sich wichtig machen“ zu tun, als dass viele von uns gelernt haben, Stress und Bedeutsamkeit gehören zusammen. Der Papa oder die Mama, die nie Zeit hatte, weil „so viel zu tun war, das wichtig ist“.

Im kollektiven Denken bedeutet Erfolg immer noch, dass man viel zu tun hat. Außerdem ist man unabkömmlich – ohne mich läuft nichts. Die Vorstellung, dass die Welt sich ohne die ständige Arbeit und Anwesenheit weiterdreht, erzeugt in vielen echte Angst.

Das gilt für jeden Berufsbereich, nicht nur für Manager von Konzernen. Nicht umsonst posten sich Influencer in den Burnout.

3. Produktiv oder beschäftigt sein? Hauptsache gestresst.

Eine weitere Erfahrung machen viele von uns ebenfalls schon in jungen Jahren: Man muss beschäftigt wirken, um in Ruhe gelassen zu werden. Je gestresster man ist, desto weniger fragen die anderen, was man den Tag über so macht: Offenbar ja unglaublich viel. Es ist dann sogar weniger wichtig, was am Ende herauskommt.

Wie wirkt man überzeugend gestresst? Am besten indem man selbst daran glaubt. Das ist ein bisschen wie beim Method Acting und die Gefahr ist eben, dass man sich wirklich sehr schnell gestresst fühlt; schneller als es sein müsste. Und sehr häufig, indem man sich mit Dingen beschäftigt, die einen gar nicht wirklich weiterbringen.

Das ist in vielen Fällen so früh im Leben geschehen, dass wir das natürlich nicht mehr bewusst wahrnehmen.

4. Arbeit darf nicht (zuviel) Spaß machen

Nicht nur, Zeit haben ist gefährlich - weil dann andere diese verplanen könnten- viele haben auch früh gelernt, dass Spaß und Arbeit kompatibel sind. Nur wenn man gestresst und bis zu einem gewissen Grad „erschöpft und frustriert“ ist, arbeitet man. Wir haben oft als Kinder schon beigebracht bekommen, dass man immer etwas „zu tun“ – bedeutet: unerfreuliche Pflichten - haben muss, sonst: Du liegst hier und spielst Lego? Dann hast du zuviel Zeit. Was ist mit Aufräumen/ In der Küche helfen/Laub harken?

Als Erwachsene tragen wir dieses Rechtfertigungsbedürfnis noch immer in uns. Es wird uns gespiegelt in den Unternehmen, in unseren Kunden, bis hin zu Freunden und Familienmitgliedern. Arbeit soll Spaß machen, denn das ist modern – aber bitte nicht zuviel!

Es darf bloß nicht so aussehen, als falle es einem leicht. Dann ist es nicht mehr bewundernswert, dann kann das bestimmt jeder, man ist ersetzbar.

Arbeit, die leicht fällt, ist immer noch weniger Geld wert in den Augen vieler Menschen

Wenn uns Arbeit leichtfällt und wir zeitlich gut damit fertig werden, dann ist sie auch heute noch in den Augen der meisten Menschen nicht so viel wert! Gerade in Unternehmen besteht die oft berechtigte Sorge der Mitarbeiter, dass die Führungsebene sofort annimmt, man habe nicht genug zu tun.

Denn dass man mit Spaß seine volle Stundenzahl arbeitet, das ist irgendwie weniger glaubhaft, weniger wertig, schlicht: nicht erwünscht. Besser, man geht auf dem Zahnfleisch.

Wenn Du die Aufgabe schneller als die Kollegen erledigst, steigt dadurch nicht etwa Dein Gehalt, sondern zunächst die Aufgabenanzahl – Du hast ja noch Kapazität. Erst viel später kann vielleicht auch das Gehalt steigen.

Auch Kunden sind schnell der Meinung, hier kann man den Preis oder das Honorar drücken, denn offenbar leistet man nicht so viel, wenn auch Freizeit bleibt.

Sicherer ist also: wir verheimlichen, dass uns die Arbeit Spaß macht und leicht fällt und deshalb gar nicht so sehr stresst.

Auch hier das Problem viele sind sich gar nicht mehr bewusst, dass sie „nur so tun“ und müssen auch selbst glauben, gestresst zu sein, um sich nicht als Lügner zu fühlen.

Um unsere Identität zu schützen, verhindern wir unbewusst, unseren Stress zu reduzieren

Wenn wir einen oder mehrere dieser Überzeugungen und Erfahrungen mitbekommen haben, dann haben wir das Problem, dass wir gegen unsere Identität handeln würden, wenn wir unseren Stress reduzieren. Wir wären Lügner oder faul, in den meisten Fällen weniger wert. Unser Unterbewusstsein schützt uns also, indem wir Möglichkeiten, uns Arbeit zu erleichtern, Arbeitszeit zu reduzieren oder Arbeit zu genießen gar nicht wahrnehmen.

Wandlung braucht Zeit

Natürlich bewegt sich hinsichtlich der Thematik Arbeit/Spaß/Leichtigkeit etwas in der öffentlichen Meinung, aber alte Muster währen lang. Und die Überzeugungen und Klischees zu Arbeit/Leistung/Lohn sind über Jahrhunderte gewachsen. Die bringt man so schnell nicht im Masse-Denken ins Wanken.

Wenn man nicht auf die Wandlung im gesellschaftlichen Denken warten will, muss man in vielen Situationen immer noch gegen den Strom schwimmen. Und vor allem gegen den eigenen inneren Widerstand.

Sich ändern bringt Stress mit sich - den wir eigentlich reduzieren wollen. Deshalb erscheint es oft leichter und besser, im alten “bekannten” Stress zu bleiben.

Wir wissen, dass selbst gute Freunde hinter unserem Rücken oder offen vor uns witzeln: „Na, du machst Dich auch nicht tot, wenn Du am Nachmittag zum Schwimmen gehen kannst. Schiebst auch eher die ruhige Kugel, was? Hätte ich auch gern.“ Das stimmt nur zum Teil. In Wirklichkeit hätten sie es eben nicht gern. Denn es würde bedeuten, dafür auf etwas zu verzichten. Das können natürlich materielle Dinge sein (Die Wohnung, das Auto, das Lastenfahrrad, das Haus etc). Es sind aber oft genug gar nicht so hohe Unterhaltskosten im Spiel. Sehr oft bewegen sich die Freunde auf dem gleichen sozialen Niveau. Aber sie haben die alten Überzeugungen und könnten sich selbst nicht mehr so wertschätzen, würden sie weniger oder weniger gestresst arbeiten.

Es ist gar nicht so einfach, zu merken, welche Vorteile Stress uns persönlich bringt. Wir haben diese Vorteile erlernt, als wir noch jung waren und sind uns dieser Lehren gar nicht mehr bewusst.

Ein Beispiel: Als mein Neffe 3 Jahre war, wollten wir mit ihm trotz Regen raus in den Park gehen. Er hatte es sich in seinem Bettchen mit einem Bilderbuch gemütlich gemacht. Bedauernd sah er uns an und sagte: „Leider nein, ich muss arbeiten.“

Wo er das wohl her hatte… Es war sehr heilsam für uns Erwachsene, und hoffentlich konnten wir noch rechtzeitig ein besseres Vorbild sein.

Was kann man also tun, wenn man sein Leben entstressen will, es aber unmöglich erscheint?

Bevor man gleich seinen Job wechselt, die Kinder zur Adoption freigibt ;-) oder den Partner verlässt, gibt es ein paar Fragen, die man sich stellen kann:

  • Wie fühle ich mich, wenn mir Arbeit leicht fällt? Ist es dann Arbeit?

  • Ist die Arbeit, die mir Spaß macht und leicht fällt viel wert?

  • Fällt es mir leicht, vor anderen zuzugeben, dass mir meine Arbeit leicht fällt?

  • Habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich tagsüber zum Sport UND auch Mittagessen gehen kann?

  • Was erwarte ich, wie mein Umfeld es aufnimmt, wenn ich nicht mehr ständig beschäftigt bin?

  • Wie denke ich über Menschen, die viel Freizeit haben? Wie über solche die viel Freizeit haben UND gut verdienen?

  • Wer bin ich, wenn ich keinen Stress in meinem Leben habe? Was habe ich stattdessen?

  • Womit verbringe ich meine Zeit?

Es gibt noch sehr viel mehr Fragen, um den eigenen Überzeugungen zur Beziehung zwischen Arbeit – Wert – Stress – und Freizeit auf die Spur zu kommen. Wenn wir uns hier ein paar ehrliche Antworten geben, tun sich sehr oft wundersamer Weise neue Möglichkeiten auf, den Stress im Leben zu reduzieren und sich selbst die Arbeit zu erleichtern.